Autobiographische Notizen

Ein bisschen Hoffnung auf Verhältnisse, die sich durch mehr soziale Gerechtigkeit und weniger inner- und zwischenstaatliche Bevormundung auszeichnen, erscheint mir als conditio sine qua non für politisches Engagement jenseits profaner Karriereambitionen.

 

Fabrikarbeit als Preis für mehr Freiheit

Autobiographische Notizen
Schreibmaschinenmanuskript (gekürzt)

Es mag überraschen, wenn einer, der es in seinem beruflichen Leben zum Chemiearbeiter mit Frührente und politisch nie über die dritte Reihe hinaus gebracht hat, laut über seinen Werdegang nachdenkt. Mein Sohn brachte dies, als er noch klein war, mal wie folgt zum Ausdruck: „Von Dir lasse ich mir überhaupt nichts sagen. Du bist ja nur ein dreckiger Chemiearbeiter.“ Das Folgende soll der eigenen Orientierung dienen. Zugleich hat der Junge (und so mancher ausschließlich auf Amtsautorität insistierender Zeitgenosse) eine Antwort verdient. Ich gehöre einer Generation an, in der spätestens ab 1969 unter vielen angehenden Akademikern eine Diskussion geführt worden ist, ob man politisch als Fabrikarbeiter mehr bewegen kann, als in einer normalen bürgerlichen Laufbahn.

Der Publizist Gerd Koenen, früher Funktionär im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), hat mit seinem Buch „Das rote Jahrzehnt“ bilanziert, wie er, der geläuterte Radikalinski, inzwischen in der bürgerlichen Gesellschaft angekommen ist (Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, Köln 2001). Ich war fast ebenso lange im KBW organisiert, allerdings nur als einfaches Mitglied. Mir ist die Identifikation mit einer Gesellschaft, wo die Mehrheit der politischen Klasse Flüchtlinge diskriminiert, sich immer noch schwer tut mit der Vergangenheitsbewältigung, wieder schamlose Umverteilung von unten nach oben betreibt und anscheinend erneut auf eine Militarisierung der Außenpolitik setzt, bis jetzt nicht gelungen. Daher auch ein paar Anmerkungen zu Koenens Sicht der Dinge, die heute von vielen prominenten 68ern geteilt werden dürfte. ...

Geboren 1945 in Lübeck; 1946 Rückkehr der Familie in die Heimat meines Vaters nach Spremberg in der Niederlausitz; 1953 bis 1960 Grundschulbesuch in der DDR …

 

Studentenbewegung in Hamburg

1960 verließen wir die DDR und ich machte 1967 in Hamburg Abitur. … Die Aufnahme meines Studiums und der Ausbruch der Studentenrevolte fielen zeitlich zusammen. … Auch in Hamburg hatte die Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs (beim Protest gegen den Schah am 2. Juni 1967) unter den StudentInnen eine Massenbewegung ausgelöst. … Obwohl der Rektor der Hamburger Universität am 7. Juni empfohlen hatte, für eine geplante Trauerkundgebung keine Vorlesungen ausfallen zu lassen, wurde sein Appell in den meisten Fachbereichen von den StudentInnen ignoriert. Auch eine gemeinsame Erklärung aller Parteien in der Hamburger Bürgerschaft, mit der die Studentenschaft aufgefordert wurde, sich „vom Verhalten einiger Wirrköpfe in ihren Reihen zu distanzieren“, blieb ohne Resonanz. … Das Hamburger Audimax auf dem Campus der Universität, das über 2000 Besuchern Platz bot, war seit dem Schahbesuch bei Veranstaltungen, die Solidarität mit der Dritten Welt oder die Verteidigung demokratischer Rechte im eigenen Land zum Thema hatten, fast immer gerammelt voll. …

Unser Misstrauen gegenüber der politischen Klasse in der BRD hatte damals vor allem ideologische, kulturelle Ursachen. Es speiste sich in erster Linie aus faustdicken Lügen beim Thema Freiheit. Während meiner Schulzeit in der DDR hatte ich Propagandabehauptungen über die Überlegenheit des Sozialismus und den Personenkult um kommunistische Führer als vergleichbar unglaubwürdig wahrgenommen. Mit dem Unterschied, dass man im Westen nicht für jede Kritik immer gleich im Gefängnis landete.

Abbildung 1: Ikone Ost / Junge Pioniere mit Ulbricht-Portrait auf der Mai-Demo 1964 in Ost-Berlin (aus: Michael Ruetz, Streitbare Zeit)

Demokratie wurde im Westen zwar ständig im Mund geführt aber, wenn es ernst wurde, meist nur denjenigen zugebilligt, die politisches Wohlverhalten an den Tag legten. International paktierte die so genannte „Freie Welt“ mit allen möglichen Diktaturen, wobei die Länder der Dritten Welt als Kuh betrachtet wurden, die man fleißig melken und bei Widerspenstigkeit beliebig abschlachten konnte. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. … Ein bisschen Hoffnung auf Verhältnisse, die sich durch mehr soziale Gerechtigkeit und weniger inner- und zwischenstaatliche Bevormundung auszeichnen, erscheint mir als conditio sine qua non für politisches Engagement jenseits profaner Karriereambitionen. … Die immer offener zutage tretende Absicht der Wirtschaft zur Rückbesinnung auf den Manchester-Kapitalismus setzt erneut die Frage nach der Legitimität von privater Verfügung über die Produktionsmittel auf die Tagesordnung. ...

Abbildung 2: Ikone West / Reklame aus „Stern“ 39/98

Koenen schreibt in „Das rote Jahrzehnt“, dass die Aktionen der 68er einen „Knick in der historischen Optik“ gehabt hätten und behauptet: „Tatsächlich war aber gerade die BRD alles mögliche, nur nicht restaurativ“. Stattdessen sei sie „eine radikale, wildwüchsige Neuschöpfung“ gewesen. (S. 101) Ludwig Ehrhard habe als der „einzig wahre Systemveränderer“ gewirkt. (S.110) Es stimmt zwar, dass die Besatzungsmächte in den Westzonen nach 1945 den Parlamentarismus nach Deutschland gebracht haben. Aber ebenso richtig ist, dass die Struktur und Ordnung der westdeutschen Wirtschaft „auf den Bajonetten der westlichen Besatzungsmächte geformt worden“ ist. (Agartz, Protokoll des 3. Bundeskongresses des DGB 1954 in Frankfurt) Zum Beispiel war die Forderung nach Sozialisierung der Grundstoffindustrie, der Energiewirtschaft und des öffentlichen Verkehrs, die 1946 in der Volksabstimmung in Hessen mit 72 Prozent Ja-Stimmen angenommen worden war (§4 der Hessischen Verfassung), von den Amerikanern annulliert worden. Weitere Volksabstimmungen über Sozialisierungsmaßnahmen in der Wirtschaft ließen die Besatzungsmächte in den Westzonen nicht mehr zu. Ein schöner Pluralismus, der nur die Verfolgung vorgegebener Ziele erlaubt.
Was den angeblichen „Systemveränderer Ehrhard“ betrifft, so hat Koenen anscheinend vergessen, dass er sein politisches Durchsetzungsvermögen in erster Linie aus den Absichten und der Rückendeckung der Amerikaner bezog. Der erste und wichtigste Schritt bei Erhards so genanntem Neuanfang, die Währungsreform, hat abermals tiefe gesellschaftliche Gräben zwischen Sachwertbesitzern und denjenigen, die nur über Geldvermögen verfügen, geschaffen. Angesichts der unmittelbar nach dem Krieg von einer großen Mehrheit der Menschen in Westeuropa getragenen Forderung nach gesellschaftlicher Kontrolle der Großindustrie, verdient Ehrhards damaliger wirtschaftspolitischer Kurs daher zu Recht das Prädikat Restauration. Koenen klammert wichtige ökonomische Sachverhalte in seinen Betrachtungen aus. ...

Abbb.3: SDS-Plakat von 1968

1968 trat ich in den Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) ein. Ab Wintersemester 68/69 bis Wintersemester 70/71 war ich Mitglied im Studentenparlament der Uni-Hamburg, für knapp ein Jahr (1969/70) im Zuge des „Marsches durch die Institutionen“ auch SPD-Mitglied. Mein Motiv für den Eintritt in den SHB war, dem in Hamburg als radikal angesehenen Flügel um Detlev Albers den Rücken zu stärken. Seine Devise lautete Aufklärung durch Provokation. („Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“). Mein Herz schlug damals eigentlich für den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Er hatte sich vor Ort aber häufig von der Bewegung isoliert, weil seine Hamburger Repräsentanten zu oft die Militanz zum Selbstzweck erhoben. Primär auf militante Aktionen zu setzen, war nach meiner Auffassung vor dem Hintergrund des ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen dem hochgerüsteten Staat und ein paar tausend radikalen Studenten ein aussichtsloses Unterfangen. … Ab Ende der 60er Jahre war die Lektüre von Marx ökonomischen Analysen des Kapitalismus und die politischen Schlussfolgerungen der Klassiker (Kapital, Kommunistischen Manifest, Staat und Revolution etc.) für die meisten Anhänger der noch nicht gespaltenen Linken ein Schlüsselerlebnis. …

Abbildung 4: 9. November 1967, Audimax der Hamburger Uni: Die Studenten Detlev Albers (links) und Gerd Hinnerk Behlmer (rechts) tragen ein Transparent zur Feier des neuen Rektors Werner Ehrlicher (rechte Halskrause), der Karl-Heinz Schäfer (linke Halskrause) ablösen wird: Der Spruch war programmatisch für eine ganze Generation.
(Foto und Bildunterschrift aus: taz 8.9.97)

Am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fachbereich (Wiso) in Hamburg stellten wir die Forderung auf, auch Marx` politökonomische Theorien in Lehre und Forschung zu verankern. … 1970 trat ich aus dem SHB aus und schloss mich der Rote-Zellen-Bewegung an. Die „Roten Zellen“ waren Organisationen der neuen,  antiautoritären Linken an den Universitäten, die im Gegensatz zu den „Traditionalisten“  den „sowjetischen Sozialimperialismus“ anprangerten, und in der chinesischen Kulturrevolution das Vorbild zur demokratischen Erneuerung des Sozialismus zu erkennen glaubten. Traditionalistische Altlinke gründeten auf der anderen Seite 1969 die DDR-hörige Deutsche Kommunistische Partei [DKP] und arbeiteten später an der Uni-Hamburg mit dem SHB zusammen. ... Obwohl sich die Studentenbewegung Anfang der 70er Jahre wieder im Niedergang befand und auch zuvor am Wiso Fachbereich politisch niemals richtig angekommen war, landete die Rote Zelle Ökonomie (Rotzök) noch einen bemerkenswerten Coup. Nach heftigen von ihren Mitgliedern initiierten Kontroversen in der Vorlesung „Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen“, unterstützten fast tausend Studenten, in der bis dahin mit Abstand bestbesuchten Fachbereichsvollversammlung, die Forderung nach Einrichtung eines Lehrstuhls für marxistische Wirtschaftstheorie.

Abb. 5: “Bild” vom 2.12.1970

 

„Mythos Arbeiterklasse“ und kommunistische Betriebsarbeit

Neben den frisch ausgegrabenen Lehren der Väter des Sozialismus waren auch empirische gesellschaftliche Veränderungen für meine Hinwendung zum „Mythos Arbeiterklasse“ verantwortlich. Nachdem wir bis zum Herbst 1969 immer ein bisschen neidisch auf die Kämpfe in Nachbarländern wie Frankreich und Italien geschielt hatten, schienen die westdeutschen Arbeiter mit den Septemberstreiks von 1969 wieder „Klassenbewusstsein“ erlangt zu haben. In den Jahren seit der Krise 66/67 ständig im Hintertreffen, setzten sie damals mit spontanen, gegen den Willen der Gewerkschaftsführung geführten Massenstreiks bundesweit zweistellige Lohnnachschläge durch. ...

Damals stellte sich für viele linke Studenten ganz konkret die Frage nach dem weiteren Sinn ihres Studiums. In Hamburg gab es darauf zwei Antworten: Zum einen das Ausloten der realen Möglichkeiten einer revolutionären Berufsperspektive im Staatsapparat, d.h. insbesondere im Ausbildungssektor. Die meisten der Linken begannen im Zuge dieser Diskussion ein Pädagogikstudium. Dieses Unterfangen wurde 1974 von der sozialliberalen Koalition unter Brandt mit Berufsverboten beantwortet. Mir leuchtete Wehners Hinweis ein, wonach Revolutionäre nirgendwo auf Staatspensionen rechnen dürften. Ferner schreckte mich die Aussicht, dass ich als Lehrer zeitlebens mit (dummen) Schülern zu tun haben sollte. Ich wählte daher den Weg in die Fabrik, wie ihn Franz Josef Degenhard seinerzeit romantisch, verklärt besungen hat: „Reiht Euch ein in die neue Front, in die Betriebe. Rollt den Laden von innen her auf, brecht das Getriebe“ (Im Jahr der Schweine, 1969). …

Abbildung 6: KBW-Plakat (priv.)

Die Hauptschwierigkeit unserer politischen Arbeit im Betrieb (1973 wurde ich Mitglied im Kommunistischen Bund Westdeutschland – KBW) berührte programmatische Fragen. Ich habe lange Jahre gebraucht, um hinter dieses „Geheimnis“ zu kommen. Unser wichtigster Glaubenssatz lautete damals, dass der Widerspruch zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung (Lohnarbeit und Kapital) stets unversöhnlich ist und nur im Klassenkampf, wobei eine Seite die andere unterwirft, zu lösen wäre. Richtig ist, dass fast alle Konflikte in der Fabrik wegen des betriebswirtschaftlich gültigen Grundsatzes, dass die Produktionskosten den Profiterwartungen im Wege stehen, objektive Grundlagen haben. Sie tangieren Interessengegensätze, die nicht allein durch Argumente beigelegt werden können, sondern durch das jeweilig aktuelle Kräfteverhältnis zwischen abhängig Beschäftigten und Kapitaleignern entschieden werden. Trotz prinzipiell entgegen gesetzter Interessenlage existieren aber zugleich Möglichkeiten zum subjektiven Interessensausgleich. Die Sozis haben gegenüber Klassenkampfdogmatikern prinzipiell Recht, wenn sie deswegen auch nach Kompromisslösungen suchen. …

Nach zwei politischen Kündigungen war ich in Hamburg ca. ein dreiviertel Jahr arbeitslos und kriegte mit, wie Arbeitslosigkeit am Selbstbewusstsein nagen kann. Nachdem ich schließlich in einer kleinen Klitsche wieder einen Job gefunden hatte, lief ich in diesem Betrieb nach etwa einem Jahr dem Kollegen von Kodolitsch (Fiete) zufällig in die Arme. Er war Gewerkschaftssekretär bei der IG-Chemie in Hamburg und Autor des Pamphletes „Was wollen die Chaoten?“, gemeint waren die Neuen Linken in Hamburger Chemiebetrieben. „Kollege Fiete“ und ich hatten in der Vergangenheit mehrfach in betrieblichen Versammlungen die Klingen gekreuzt. Eine Woche nach unserer Begegnung hatte ich eine „betrieblich bedingte“ Kündigung in der Tasche. Es war für mich eine kleine Genugtuung, dass ich anschließend mittels Gewerkschaftsanwalt nach knapp einem Jahr vor dem Arbeitsgericht meine Wiedereinstellung durchsetzen konnte. … KollegInnen kommentierten meine Rückkehr im Betrieb mit den Worten: „Es ist auch für uns alle besser, dass sie dich wieder einstellen mussten“. Dieses kleine Erfolgserlebnis konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich alles in allem in Hamburg zwischen 1972 bis 1979 in meinen Betrieben keine Klassenkämpfe initiieren konnte. Der heimliche Traum vom Arbeiterführer hatte sich als Luftblase erwiesen. Das galt ebenso für die Betriebsarbeit nach meinem Umzug nach Minden im August 1979. …

Was mich trotz aller praktischer Fehlschläge so lange im KBW festhielt, war die Diskussion der Machtfrage, sei es im Innern oder im Weltmaßstab. Sie war der Nektar, den der KBW im Gegensatz zu allen anderen linksradikalen Organisationen anzubieten hatte. Die 1977 von der CDU (von „Keks Albrecht“) losgetretene Verbotskampagne schien die Richtigkeit unserer Machtphantasien sogar noch einmal zu bestätigen. Wir rückten wieder enger zusammen, weil wir glaubten, dass die Bourgeoisie den KBW besonders fürchtete. Unter uns Frischlingen des Marxismus-Leninismus grassierte die trügerische Vorstellung, dass wir unmittelbar am Rad der Weltgeschichte mitdrehen würden.

 

KBW-Austritt, aber Festhalten am Job

1981 durchlebte der KBW Konflikte, die mit seiner Spaltung endeten. Aus ihr ging eine (knappe?) Mehrheit um den Genossen Schmierer (Organisationssekretär) hervor, die noch ca. zwei Jahre bis zur Selbstauflösung der Organisation unter dem Namen KBW firmierte. Die anderen GenossInnen gründeten um den zweiten Häuptling Fochler den so genannten Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK), der später meines Wissens eine Fraktion in der PDS bildete. Die Auseinandersetzung wurde vor der breiten Mitgliedschaft zunächst verborgen. Im „Zentralkomitee“ (oberstes Leitungsorgan des KBW) hatte Fochler eine Mehrheit um sich scharen können, die Schmierer als Sekretär abgesetzt hatte. Erst ab diesem Zeitpunkt wurden alle Mitglieder durch eine Stellungnahme von Schmierer mit dem Streit vertraut gemacht. … Mir war damals nicht bewusst, dass Schmierer dieses Spielchen, gemäß den Grundregeln des „Demokratischen Zentralismus“ mitgemacht hatte. …

Vor allem das Miterleben der polnischen Solidarnosc-Bewegung hatte bei mir für die Lossagung vom Kommunismus eine Katalysatorfunktion. Ich war bis dahin auch immer als Apologet der chinesischen Revolution aufgetreten, mit der Folge, dass ich vor den Massenmorden in der Kulturrevolution und durch den Pol Pot-Kommunismus in Kambodscha die Augen verschloss. Enthüllungen in den Medien tat ich als „bürgerliche Hetzpropaganda“ ab. Als ich 1981 in der von mir damals abonnierten „Peking Rundschau“ gelesen hatte, dass es „in China keine unabhängigen Gewerkschaften geben“ werde – Deng über Solidarnosc – lief das Fass über. Ich bemerkte endlich, dass Demokratie und Kommunismus einander ausschließen und begann mir die Frage zu stellen, warum ich weiter im KBW bleiben sollte. …

Meine fast zehn Jahre währende Mitgliedschaft im KBW (Austritt im Frühjahr 1982), kann ich, bis auf ein paar amüsante politische Anekdoten und einige für mich sehr wichtige Freundschaften, in punkto geistiger Horizonterweiterung getrost unter der Rubrik verlorene Zeit verbuchen. Das Theorieangebot im KBW hatte entscheidende Defizite. Die Vorgaben zielten selten auf eine Klärung drängender politischer Tagesfragen. Sie standen eigenlogisch im Dienst des Organisationsaufbaus, der illusionären Zielen diente, denn die behauptete revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse hatte sich als „Schreibtischkonstrukt“ (Andre Gorz, Abschied vom Proletariat) erwiesen. Im Unterschied zu den eher undogmatischen Anfängen der Studentenbewegung, wo mir die Auseinandersetzung mit der vorherrschenden ökonomischen Lehre viel Spaß gemacht hat, fühlte ich mich im KBW bei theoretischen Anforderungen in vorbestimmte Richtungen gelenkt. Als Reaktion schlüpfte ich oft in die Schwejk-Rolle, um keine Posten angetragen zu bekommen bzw. mich am Artikelschreiben oder an Referaten so gut wie möglich vorbeizumogeln. Bei den Klassikerschulungen, die vor allem bei jungen GenossInnen und bei SympathisantInnen des KBW einen relativ guten Ruf besaßen, zehrte ich mehr oder weniger von dem Fundus, den ich mir vor meiner KBW-Zeit angeeignet hatte. …

Mit dem KBW-Austritt war die Geschäftsgrundlage für das Vorhaben „revolutionäre Betriebsarbeit“ unwiderruflich entfallen. Viele ehemalige GenossInnen nahmen damals wieder ein Studium auf, einzelne machten in der großen Politik Karriere. Ich verspürte in diese Richtung weiter keine Ambitionen. Das lag nicht nur am angeborenen Hang zur „Oblomowerei“ (“Wer nicht faulenzen kann, mit dem ist etwas faul”, Wiglaf Droste) und vermuteten intellektuellen Grenzen, wirklich ganz oben ankommen zu können. Die Entscheidung, den Blaumann weiter zu tragen, begründete sich für mich vor allem aus meinen konkreten Erfahrungen am Arbeitsplatz. Wer die Fabrikarbeit nicht durch die Brille proletarischer Romane betrachtet, muss einräumen, dass technische Neuerungen in der Produktion alles in allem die konkreten Arbeitsbedingungen körperlich erleichtert haben. Das galt zumindest für alle mir bekannten gewordenen Arbeitsplätze (23 Jahre in verschiedenen Chemiebetrieben). Gesundheitsschädlich wird die Arbeit in der Chemiebranche zuweilen dann, wenn technische Defekte auftreten bzw. Arbeitsschutzbestimmungen „übersehen“ werden. Beides waren Ausnahmefälle. In Hinblick auf eine Verletzung des Arbeitsschutzes war Abhilfe in normativer Hinsicht möglich, wenn man den Mund aufmachte. Finanziell konnte man damals bei bescheidenen Ansprüchen ebenfalls ganz gut über die Runden kommen („Es ist das Gefühl und nicht der Magen, was die Menschen glücklich macht“ (Bruno Traven), im Gegensatz zu unserer übertriebenen Propaganda einer drohenden „absoluten Verelendung der Arbeiterklasse“ etc. … Ich kündigte 1984 auch meine Mitgliedschaft in der IG Chemie auf, in die ich 1971 eingetreten war. Die Mindener Gewerkschaftsgruppe verstand sich zu dieser Zeit in ihrer übergroßen Mehrheit als Akklamationsorgan der innerhalb der Gewerkschaftsbewegung weit rechts positionierten Führung in Hannover und verweigerte jede politische Diskussion. …

Innerbetrieblich meldete ich mich in Konfliktsituationen nur noch dann zu Wort, wenn ich unmittelbar betroffen war. … Kollegen, die selber stillhielten, aber Zeuge wurden, dass sich selbstbewusstes Auftreten bezahlt macht, kommentierten bisweilen ein bisschen neidisch: „Du hast hier ja Narrenfreiheit“. Während sich in der Produktion viele Kollegen über Monotonie und langweilig wiederkehrende Arbeitsprozesse beklagten, zog ich aus diesem Umstand eher einen Vorteil: je weniger Aufmeksamkeit ich auf die einzelnen praktischen Tätigkeiten verwenden (verschwenden) musste, desto länger konnte ich mich gedanklich mit interessanteren Dingen beschäftigen. Auf der Grundlage, dass ich die mir übertragenen Arbeiten so erledigte, dass niemand etwas daran aussetzen konnte, waren am Arbeitsplatz zum Teil beträchtliche Freiräume (besonders in der Spät- und Nachtschicht) zu verbuchen. Niemand widersprach, wenn ich dann während der Arbeitszeit las, Flugblätter oder Artikel vorbereitete und so weiter. Da ich mir keinen Arbeitsplatz vorzustellen vermochte, der vergleichbare Nischen geboten hätte, bin ich auch nach 1982 (bis zur Verrentung 1995) weiter im Betrieb geblieben. Fabrikarbeit war der Preis für mehr Freiheit. …

Abbildung 7: Am Arbeitsplatz in Minden Anfang der 80er Jahre (priv.)

Nachdem ich mich nicht länger als „Soldat der Weltrevolution“ betrachtete, verhielt ich mich reservierter gegenüber neuen Mitgliedschaften. Die Erfahrung, dass organisatorische Einbindung geistige Abschottungsprozesse begünstigt, war der Grund dafür. Ich knabberte vor allem an der Tatsache, dass ich mich im KBW, allen subjektiven Demokratiewünschen zum Trotz, freiwillig mit einem quasi stalinistischen Korsett abgefunden hatte. Ich hatte mich ebenso gläubisch gezeigt, wie von mir ansonsten belächelte Kirchenmenschen. (“Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusiorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.” - Zitat aus Karl Marx’ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Meine Illusionen, dass unter kommunistischer Herrschaft mehr Demokratie verwirklicht werden würde, rührten von einer bekannten Leninschen Metapher: Er hatte in „Staat und Revolution“ versprochen, dass nach der Revolution jede Köchin befähigt werden sollte, selber die Staatsgeschäfte in die Hand zu nehmen. Die in China während der Kulturrevolution ebenso gleichmacherisch propagierte Forderung nach der Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit wertete ich - und ich konnte mich dabei auf viele prominente westliche Intellektuelle beziehen - als wichtigen praktischen Schritt zur Demokratisierung des Sozialismus. Erst viel später habe ich mir eingestehen müssen, dass auch Nazifunktionäre ähnliche Propagandatöne angeschlagen haben. …

Abb. 8: Nebelspalter - 1935

 

Zwischenstation bei den Mindener Grünen

Vor Ort wurde mir die organisatorische Enthaltsamkeit ziemlich leicht gemacht. Bundesweit versprachen Anfang der 80er Jahre die Grünen einen neuen Aufbruch. Die Gründungsmitglieder dieser Partei in Minden fühlten sich aber fast alle nur dem Umwelt- und Naturschutz verpflichtet. … Selbst die damalige Friedensbewegung war kein ernsthafter Anlass für sie, die Ein-Punkt-Bewegungsbrille abzusetzen. Durch die Friedensbewegung wurden aber auch in Minden neue Kräfte mobilisiert, die sich nicht mit Fragen nach gesunder Ernährung oder so zufrieden gaben. Ich beteiligte mich zunächst im Umfeld der Grünen an dem Versuch Arbeitsgruppen aufzubauen, die sich Themen wie Krieg und Frieden, Wirtschaft, Ökologie und soziale Gerechtigkeit sowie der Auseinandersetzung mit der Politik des realsozialistischen Lagers stellen wollten (Solidarnosc-Gruppe). Langfristig waren diese Bemühungen leider nicht von Erfolg gekrönt. Auch nach meinem Eintritt in die Grüne Partei (1987) und während meiner Mitgliedschaft in der vierköpfigen Fraktion im Stadtrat (zwei Jahre von den Kommunalwahlen 1989 bis zur Mandatsaufgabe im Herbst 1991), hielt der alte Kern an seinem eindimensionalen Kurs fest. Lokalpolitisch wichtige Themen, wie Ausländer- Frauen- oder Friedenspolitik blieben ein exklusives Hobby einzelner Mitglieder. Der Umstand, dass Minden keine Universitätsstadt ist, wirkte sich ebenfalls nachteilig aus. Nachwuchs, soweit er etwas vorhatte, verabschiedete sich nach Abschluss der Schulzeit ganz schnell von der Provinz.

Abbildung 9: Titelblattgestaltung: Jo Klaffki, Minden 1989

So mussten die unterschiedlichen politischen Vorstellungen in der Ortsgruppe früher oder später ans Licht kommen. Das geschah Ende 1991 an der Frage, ob der SPD-Kandidat für die anstehende Bürgermeisternachfolge von uns mit gewählt werden sollte oder nicht. Der SPD fehlten im Stadtrat wegen unsicherer Kantonisten in den eigenen Reihen vier Stimmen. Ihr Kandidat gehörte zum linken Flügel der Partei. Er hatte mehrfach praktisch sein politisch-liberales Selbstverständnis unter Beweis gestellt. Gegen das Argument, dass wir mittels Ja-Stimmen politisch größeren Einfluss gewinnen könnten, führten die Ökos ins Feld, dass in den Ratsgremien Grüne Anträge mit den Stimmen der SPD abgelehnt worden seien. Nachdem eine knappe Zufallsmehrheit gegen die Mitwahl zustande gekommen war, wurde auch eine Befragung der Ortsgruppenmitglieder von diesen Grünen Parteifreunden verhindert. Angesichts dieser politischen Verbohrtheit gab ich Ende 1991 zunächst mein Ratsmandat zurück und hängte im Frühjahr 1992 frei nach Gottfried Benn, „Maulwurfshügel räumen, wenn Zwerge sich vergrößern wollen“, mein kommunalpolitisches Engagement endgültig an den Nagel.

Trotzdem sympathisierte ich bis zum Lafontaine Rücktritt 1999 weiter mit dem realpolitischen Flügel der Grünen im Bund. Erst durch ihre Reaktion auf den Rücktritt des SPD-Vorsitzenden ist mir die neoliberale Rückwärtsrolle führender Grüner Repräsentanten bewusst geworden. Siehe z.B. Joschka Fischer, der im Stern 41/99 Lafontaine wegen Vereinbarungen über Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung im rot-grünen Koalitionsvertrag für fortgesetzten Reformstau verantwortlich gemacht hat: „Wir Grünen hätten uns gewünscht, dass ein paar Signale anders gestellt worden wären. Das war nicht durchsetzbar, da war Oskar Lafontaine vor”. Wenn Koenen die Ursache für Lafontaines Scheitern in „seinem doktrinären Modell eines vermeintlich aufgeklärten Staatsinterventionismus“ zu erkennen glaubt (vgl. Koenen ebd. Seite 497), muss er sich die Frage gefallen lassen, wie eine soziale und ökologische Marktwirtschaft ohne Staatsinterventionismus funktionieren soll. Sogar Ludwig Erhardt hatte Anfang der 50er Jahre beim Staatsinterventionismus Zuflucht nehmen müssen (Wohnraumbewirtschaftung), um die durch seine vorangegangene Wirtschaftspolitik des Laisser-faire vergrößerte Kluft zwischen Arm und Reich abzufedern und sein Amt zu retten. Die wenigen wirtschaftspolitischen Pluspunkte, die sich heute noch bei Rot-Grün ausmachen lassen, basieren auf aufgeklärtem Staatsinterventionismus, wie das Beispiel der Entwicklung regenerativer Energien bezeugt. ...

 

Einmischung von unten

Im Zuge der Auseinandersetzung über meinen Austritt aus der Grünen Partei bekam ich von wohlmeinender Seite mehrfach gesagt: Ich solle mir das gut überlegen. Angesichts des Stellenwertes, den Politik in meinem Leben einnehme, würde ich „ohne Politikmachen in ein schwarzes Loch fallen“. Ich habe das anders gesehen. Natürlich entfiel nach dem Rücktritt als Stadtrat jede Möglichkeit, sich via Amt Gehör zu verschaffen. Ich war mir darüber im Klaren, dass ich zukünftig als Privatmensch nur marginal politische Akzente setzen könnte. Das erschien mir aber grundsätzlich weiter möglich. Die Beschäftigung mit Desideraten der Lokalgeschichte hatte ich schon länger im Auge und bei den Grünen dafür nur wenig Unterstützung erfahren. Nur der inzwischen verstorbene Parteifreund Stapperfenne war bei historischen Fragen ansprechbar bzw. selber politisch initiativ. 1989 hatten wir zusammen dafür gesorgt, dass es mit der öffentlichen Vergesslichkeit im Fall eines Mindener Ex-Staatsanwaltes am Volksgerichtshof ein Ende hatte. Staatsanwalt a.D. Bellwinkel hatte gegen Kriegsende in Berlin Todesurteile gefordert und als Vollstreckungsleiter fungiert. Nach dem Krieg konnte er seine Karriere in der Justiz unbehelligt fortsetzen. „Er habe nur das Recht gekannt“, hieß es dazu in der Lokalpresse. Die Veröffentlichung einzelner von Bellwinkel unterzeichneter Terrorurteile hatte genügt, dass es danach um den „Ehrenvorsitzenden der Mindener Sektion im Deutschen Alpenverein“ still wurde.

Nach dem Austritt aus der Grünen Partei habe ich versucht, an diese Erfahrung anzuknüpfen. Dabei stellte ich schnell fest, dass bis dahin vor allem dunkle Kapitel aus der Nazizeit in Minden nicht untersucht waren. … Bei meinen lokalen Nachforschungen habe ich mir immer wieder die Frage gestellt, ob die gewählten Themen auch für eine breitere Öffentlichkeit interessant wären. Vor allem wegen der politischen Akzentsetzung konnte ich mich bei neuen Erkenntnissen jederzeit öffentlich einmischen. Der Stadtrat hat so 1998 (!) die Ehrenbürgerschaft des ehemaligen Gauleiters Meyer, der auch an der Wannsee Konferenz teilgenommen hatte, einstimmig aufgehoben. Die Ratsfrauen und Herren wussten nur zu gut, dass ich den Fall sonst über die Lokalpresse aufgerollt hätte. Meine Nachforschungen über die Synagogengemeinde von Petershagen haben mitbewirkt, dass die Restauration der einzigen im Kreis Minden unzerstört gebliebenen Synagoge Mitte der 90er Jahre in Angriff genommen und inzwischen auch die angrenzende ehemalige jüdische Schule unter Denkmalschutz gestellt wurde. (Stapperfenne hatte 1988 erstmalig darauf aufmerksam gemacht, dass die alte Synagoge in der Nachbargemeinde als Lagerraum missbraucht wurde und die Einrichtung eines Dokumentationszentrums vorgeschlagen.)

Bisher stechen in der alten Garnisonstadt Minden kriegsverherrlichende Denkmäler und Straßen ins Auge, die nach alten Generälen, Schlachten und militärischen Einrichtungen benannt sind. Mein Ziel, im Stadtbild alternativ dazu, eine zivile politische Symbolik erkennbar werden zu lassen, erfordert bisweilen die punktuelle Zusammenarbeit mit Organisationen/Initiativen, die sich entsprechende Themen selbst vornehmen, oder sich dafür gewinnen lassen. Siehe etwa die Forderung der Mindener Versöhnungsbundgruppe nach einem „Denk-Mal für Deserteure“, oder den UnterstützerInnenkreis Kurlbaumstraße: diese Initiative fordert, zusammen mit den Zeugen Jehovas, dass auf dem Gelände der ehemaligen Simeonskaserne in Minden ein Straßenzug nach Heinrich Kurlbaum benannt wird. Kurlbaum war hier 1943 zum Pionier ausgebildet und 1944 wegen religiös-motivierter Kriegsdienstverweigerung exekutiert worden.

Abb. 10: Seit November 2004 gibt es auf dem Areal der ehemaligen Simeonskaserne einen “Heinrich-Kurlbaum-Weg” (Fotomontage: zg-minden.de unter Verwendung von Wollheim - Der Verurteilte)

Unter dem Strich lässt sich hinsichtlich meiner bisherigen Einmischungsversuche von unten folgende Zwischenbilanz ziehen: Möglichkeiten dazu sind auch für Privatmenschen gegeben. Es muss nur etwas Gehirnschmalz und persönliches Engagement investiert werden. Ich kann für meine Zeit ohne Parteimitgliedschaft ab 1992 mehr Erfolgserlebnisse verbuchen, als während der Jahre in der SPD, im KBW oder bei den Grünen. … Die These, dass man sich in politischen Parteien organisieren müsse, um etwas zu bewegen, dient der Zementierung bestehender Verhältnisse. Die Rücksichtnahme auf Parteifreunde in den so genannten „Volksparteien“ beschert in der Regel politischen Wabbelpudding oder Nachtrab hinter besonders starken Interessenverbänden. … Die Tatsache, dass Statements von SpitzenpolitikerInnen in der Regel erst nach ihrem Rückzug auf das Altenteil interessant werden, zeigt symptomatisch, dass ein Besitz von Ämtern eher hinderlich für Neuerungen ist.

Ich muss hier aber selbstkritisch konstatieren, dass man Ämter in Parteien oder Institutionen nicht mit einem Studienabschluss verwechseln sollte. (Mit einem Diplom in der Tasche wäre meine „Fabrikarbeiterkarriere“ ebenso möglich gewesen.) Für politische Aktivitäten, die man privat startet, ist es meistens von Vorteil, wenn Erkanntes einen akademischen Stempel trägt. Es wäre naiv zu glauben, dass im gesellschaftlichen Diskurs nur die Sachautorität zählt. … Zum Beispiel hatte ich bei Beginn meiner Beschäftigung mit regionaler Zeitgeschichte das Glück, in den Organen des eher konservativ orientierten Mindener Geschichtsvereins publizieren zu können. Der frühere Leiter des Mindener Kommunalarchivs ließ sich bei der Themenwahl in der Hauptsache vom Kriterium „neue Erkenntnisse für die Stadtgeschichtsschreibung“ leiten. Nach seiner Pensionierung bekam ich prompt Schwierigkeiten. Von mir anvisierte Themen, wie die bis dahin noch nicht untersuchte Rolle der Mindener Wehrmachtsverbände, sollten von nun an weggedrückt werden. Damit könne man „keine Lorbeeren ernten“, lautete der Kommentar eines damaligen Vorstandsmitgliedes im Mindener Geschichtsverein. Die Nachfolgerin in der Archivleitung orientiert sich inzwischen an dieser Devise. Sie fürchtet ansonsten wohl um ihre Reputation in den konservativen Kreisen von Minden.

Breite gesellschaftliche Protestbewegungen sind unverändert notwendig, wenn man nicht nur marginale sondern grundlegende gesellschaftliche Veränderungen anstrebt. Sie entstehen bekanntlich nicht auf Kommando. Die Massenproteste der Studenten sind erst nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg losgebrochen, und niemand hatte das voraus gesehen. Ihre Kraft bezogen sie aus dem Umstand, dass in mehr oder weniger allen Großstädten in der BRD tausende StudentInnen und bald auch SchülerInnen und viele Lehrlinge den Entschluss fassten, gegen alle Widerstände auf der Straße ihre Meinung gemeinsam kund zu tun. Diese unerwartete politische Eruption wirbelte die Staatsbürokratie gewaltig durcheinander. … Viele Amtsträger duckten sich weg, einzelne, die in bekannt autoritärer Manier für „Ruhe und Ordnung“ sorgen wollten, mussten, besonders an den Universitäten, ihre Hilflosigkeit erkennen oder machten sich lächerlich. …

Abbildung 11: Durchbruch (aus: Michael Ruetz, Streitbare Zeit)

Es war die kalkulierte Verletzung der Spielregeln, zu der damals alle Protestierenden bereit waren, die uns, neben unseren Argumenten, diese Machtposition eintrug. Es ist unmöglich Bewegungen zu konservieren. Sie verschwinden spätestens wieder, wenn Teilerfolge erreicht sind. Nur in einer Situation, wo zwischen tradierten Parteien und Bürokratien einerseits und der Bewegung andererseits vorübergehend eine Art Doppelherrschaft entsteht, lassen sich Reformen von unten auslösen, die ungerechtfertigte Privilegien bzw. verkrustete gesellschaftliche Strukturen beseitigen helfen. Anschließend ist für eine begrenzte Zeit der Weg frei für Reformen von oben. Brandts Ausspruch in seiner Regierungserklärung von 1972, „mehr Demokratie wagen“, und die punktuell unter ihm beschlossenen Reformen im staatlichen Überbau und die neue Ostpolitik waren nur möglich, weil die Studentenbewegung durch ihre Proteste gegen den Mief der Adenauerrepublik vorher die ideologische Vorherrschaft der CDU/CSU ins Wanken gebracht hatte. Nach dem Versanden der Bewegung war es schnell wieder aus mit Reformen von oben. Schon die Regierung Brandt setzte gegen alle Träger der vormaligen Bewegung, die sich nicht einbinden lassen wollten, Berufsverbote auf die Tagesordnung.

Mit der Diskussion bei den Grünen, die durch die Friedens- und Antiatomkraftbewegung 1983 ins Parlament gehievt wurden, verhält es sich ähnlich. Zunächst hieß es, Standbein der Partei sei die Bewegung. Später wurde das Parlament zum Standbein und die Bewegung war bloß noch Spielbein. Inzwischen sind den Grünen beide Beine sowie das Rückgrat abhanden gekommen. Seit dem Regierungseintritt stellen ihre SpitzenvertreterInnen zunehmend ihre Meisterschaft im Sesselfurzen unter Beweis und bedienen mit ihrem runderneuerten Wirtschaftsliberalismus - im Unterschied zur FDP fordern sie noch ein paar ökologische Modernisierungen - bevorzugt privilegierte Schichten und ihre eigenen Interessen am Amterhalt. Diese Entwicklung wird sich heute realistischerweise nicht mit einem neuerlichen „Marsch durch die Institutionen“ (gezielten Parteieneintritten, Parteineugründungen) umdrehen lassen.

Stattdessen bleibt die Hoffnung auf eine neue außerparlamentarische Oppositionsbewegung, die wieder als Auslöser und Motor gesellschaftlicher Reformprozesse funktioniert. Bis es soweit ist kann man sich nur bescheiden, sei es bei marginalen Einmischungsversuchen als Privatmensch oder in Organisationen, wo sich Menschen in der Hoffnung auf die beschriebene Entwicklung zusammen finden. (Attac?) Und dann wird das Spielchen vermutlich eines Tages von vorn losgehen: Bewegung, Teilerfolg, neue Partei(en), vom Standbein in der Bewegung zum Standbein im Parlament und erneut opportunistische Anpassung. Einsicht in die Endlichkeit aller subjektiven Anstrengungen, politische Verhältnisse zu reformieren, bewirkt auch etwas Gutes. Sie trägt dazu bei, sich von der Vorstellung zu lösen, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit. Friedrich Engels bekannte Formel ist letztlich auch nur eine Variante der so genannten Preußischen Sekundärtugenden, das habe ich insbesondere im KBW gelernt. Wirklich frei sind dagegen nur diejenigen, die nichts mehr müssen. Auf der herkömmlichen gesellschaftlichen Sprossenleiter von Ansehen und Erfolg finden sich dazu häufig unten bessere Rahmenbedingungen als oben.

Überlegungen eines gottlosen und bisschen faulen Zeitgenossens in der Provinz.

Minden, Januar 2005


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