Diskurs

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Diskurs "Stolpersteine in Minden“

Auch eine Art Stolperstein

Foto aus: Edward Serotta, Jüdisches Leben im Osten Europas nach dem Holocaust, Berlin 1992, Seite 80. Es hat die Unterschrift: "Das Haus eines Priesters im Dorf Sobiene hatte einen Hof, der mit jüdischen Grabsteinen gepflastert war. Der Priester behauptete, die Nazis hätten das getan. November 1989"

 

Geringer politischer Lerneffekt
Anmerkungen zur Stolpersteinverlegung in Minden

Zwischen November 2005 – März 2011 sind laut Friwo-Homepage in Minden 69 Stolpersteine verlegt worden. Damit soll an Juden, Sinti und Behinderte aus der Weserstadt erinnert werden, die zwischen 1933 – 1945 umgebracht wurden. Nach dem von Gunter Demnig initiierten Projekt sind Namen, Geburtsdaten sowie Ort und Zeitpunkt der Tötung kaum lesbar auf zehn x zehn Zentimeter großen Pflastersteinen zu finden, die am früheren Wohnort der Betroffenen in die Gehwege eingelassen sind. So soll laut dem Initiator „Bewusstsein für den Judenmord aus Gedenkstätten in den Alltag geholt werden“. Das Vorhaben wird bundesweit und in Nachbarländern betrieben. In Minden fokussiert sich die aktive Auseinandersetzung mit der Nazi-Geschichte überwiegend auf das Stolpersteinprojekt. Es soll im Frühjahr 2012 fortgesetzt werden. Seine Protagonisten setzten sich dabei öffentlich kaum mit kritischen Einwänden auseinander. Deswegen diese Zwischenbilanz:

Zustimmung zur Form des Gedenkens eingeholt?
Es ist nützlich, wenn lokale Opfer des Naziregimes herausgefunden bzw. bekannt gemacht werden sollen. Ungeklärt bleibt aber bisher für Minden, ob bei den Stolpersteinverlegungen in jedem Fall das Einverständnis der Angehörigen mit der Form der Veröffentlichung eingeholt wurde. Viele Betroffene wollen nicht, dass ihre „ermordeten Angehörigen erneut mit Füßen getreten werden“. Im Talmud erfolgt eine Gleichsetzung der Person mit ihrem gesprochenen/geschriebenen Namen. (Vgl. Unterseite Diskurs über Stolpersteine: Dr. Bernd-Wilhelm Linnemeier, Stolpersteine – eine problematische Form des Opfergedenkens) Solche Gefühle/Überzeugungen müssen respektiert bleiben. Wer wurde in der Weserstadt befragt, wenn keine lebenden Angehörigen da sind? 
Der Zentralrat der Sinti und Roma macht eine Verlegung von Stolpersteinen ausdrücklich von einer Zustimmung der Angehörigen abhängig und plädiert dafür, dass die Erinnerung in anderer Form, z.B. mit Hinweistafeln in Augenhöhe, Mahnmalen …, durchgeführt wird. (Vgl . Unterseite Diskurs über Stolpersteine: Pressemitteilung vom 11. März 2009 – Dokumen-tations- und Kulturzentrum Dt. Sinti und Roma; siehe auch:
http://www.gedenkorte.sintiundroma.de)

Wenig Raum für Widerstand und Erfahrungen Überlebender
Mit den Stolpersteinverlegungen soll nach Demnig „Bewusstsein für den Judenmord in den Alltag geholt werden“ Für den auch von Juden, Sinti und Roma geleisteten Widerstand bleibt in Demnigs Konzept kein Raum. Durch eine Verkürzung der Verfolgung auf die Nennung ermordeter Opfer wird objektiv dem tradierten Vorurteil, „Juden hätten sich wie Vieh zur Schlachtbank treiben lassen“, Vorschub geleistet. Das Gegenteil ist auch für Minden evident. Siehe dazu insbesondere die Beispiele der inzwischen öffentlich im Stadtbild geehrten Juden Otto Michelsohn und Max Ingberg sowie den Sinto Kurt Steinbach (Vgl. MT v. 5. Juni 2010). Sie agierten nicht wie Schafe, sondern verteidigten sich nach ihren Möglichkeiten. Im Stolpersteinprojekt ist auch kein Raum für solche Opfer vorgesehen, die als Überlebende aus den Vernichtungslagern zurückgekehrt sind und über das unvorstellbare Grauen als Augenzeugen berichten können/konnten. Sie verdienen keinen Missbrauch als „Vorzeigejuden“ bei bestimmten Feiern und Veranstaltungen. Ihre konkreten Erfahrungen sind für jede seriöse Aufarbeitung der NS-Geschichte, die nicht nur aus massenhaftem Judenmord bestand, unentbehrlich.

Verfolgung vor 1933 bleibt tabu
Zum Stolpersteinprojekt ist zusätzlich kritisch anzumerken, dass darin lediglich die Verfolgung während der Nazizeit betrachtet wird und alles, was schon vor 1933 passierte, vor allem Fragen, wie und mit wessen Hilfe die Nazis an die Macht kamen, tabu bleiben. Die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ waren z.B. für die Nazis das zentrale Dokument und Hilfsmittel, mit dem sie ihren aggressiven Antisemitismus in Deutschland verankert haben, und die Argumentationsmuster der „Protokolle“ dienen Antisemiten in aller Welt bis heute zur Rechtfertigung von Judenverfolgung. In den „Protokollen“ wird demagogisch jüdisches Weltherrschaftsstreben unterstellt. Sie wurden 1903 in Russland von der Geheimpolizei des Zaren fabriziert, nach dem Ersten Weltkrieg in viele Sprachen übersetzt und erfuhren insbesondere in Deutschland viele Neuauflagen. Von den Nazis wurden sie gebetsmühlenhaft zur Rechtfertigung ihrer Rassenpolitik benutzt.
In Minden verbreitete die lokale evangelische Kirchenzeitung, das „Mindener Sonntagsblatt“, 1919 mit der Serie „Vom Zionismus“ kritiklos die wichtigsten Thesen aus diesem Hetzpamphlet. (Vgl. Dirks/Kossack, Spuren jüdischen Lebens in M., Seite 145). Deutschnationale Parteigänger und Sympathisanten, darunter viele Christen, haben die Nazis, ohne immer mit ihnen bei Allem und Jedem überein zu stimmen, lange vor der Machtübernahme unterstützt. Diese unbequeme Wahrheit verschweigen die Stolpersteinaktivisten.
Aktive Mindener Kirchgänger, die sich heute für das Stolpersteinprojekt engagieren, haben bisher kaum an der 1987 erfolgten Namensgebung für einen christlichen Kindergarten an der Kuhlenstraße nach dem Nazihelfer und Pfarrer Viktor Pleß Anstoß genommen. In der Stadt wird der Fall schon lange verdrängt: Der 1935 verstorbene Bekenntnispfarrer war von 1924 bis zu seinem Tod Pfarrer an der Mindener Stadtkirche St. Martini und Schriftleiter des „Mindener Sonntagsblatts“. Das Sonntagsblatt begrüßte 1933 unter anderem den „Aprilboykott“ jüdischer Geschäfte und die „Bücherverbrennung“. Der politisierende Pfarrer hatte schon vorher, 1931(!), in seiner Kirche die damals noch verbotene Hakenkreuzfahne und SA-Uniformen geduldet. Im Sommer 1934 pries er auf einer Kundgebung am Porta Denkmal Adolf Hitler als Retter Deutschlands … . Die Nazis in Minden dankten ihm seine Schützenhilfe in einem Nachruf im „NS-Volksblatt“ am 29. Januar 1935 mit den Worten: „Wir Nationalsozialisten wollen aber nicht vergessen, dass er der erste Pfarrer in unserer Heimat war, der uns in unserem braunen Ehrenkleide traute – als wir noch nicht die Staatsführung inne hatten.“ Offiziellen Vertretern der evangelischen Kirche in Minden ist das alles lange bekannt. Wie passt das zusammen: Einerseits bei Stolpersteinverlegungen Naziopfern zu gedenken und andererseits einen stadtbekannten Helfer der Täter als Namensgeber ehren? (Vgl. Unterseite Viktor Pleß)

Der Zukunft schuldig, nichts zu verschweigen
Der 1937 nach Palästina emigrierte frühere Mindener Jude, Eliyhu Kazir, der nie müde wurde vor der politischen Wirksamkeit der „Protokolle“ zu warnen, fasste notwendige Aufgaben sowie Versäumnisse beim Aufklären 1981 in einem Brief an das Mindener Kommunalarchiv wie folgt zusammen: „Jede Begegnung mit der Mindener Geschichte bringt mich von Neuem in meinen inneren Konflikt mit Euch.“ Man könne ja den inneren Widerstand verstehen, dieses Thema zu behandeln. Bei vielen sei sicher das Schuldgefühl, bei anderen das Schamgefühl noch vorhanden. Es sei daher verständlich, dass der Wille diese schreckliche Zeit zu vergessen, heute immer noch bestehe. „Aber Ihr und wir sind es der Zukunft schuldig, nichts zu verschweigen. Das Problem ist die Jugend, das Lesebuch in der Schule“ 1993 hob Kazir in einem Vortrag die Notwendigkeit der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Nazi-Ideologie besonders hervor. Die Nazis hätten es geschafft ihre Sprache mit allen Hassparolen und plumpen Entstellungen zur allgemeinen Propagandasprache zu erheben. Ohne eine Entzauberung ihrer Ideologie würde überall und immer wieder im Gleichschritt unter der Parole „Juda verrecke“ marschiert.
Bei den Stolpersteinaktionen werden unter dem Strich Opfer addiert und auf der Homepage der Friwo zum Teil mit buchhalterischer Akribie geographisch verortet. Damit wird eine Zeitlang Anteilnahme geweckt, gleichzeitig bieten die aufwendigen Events publikumswirksam Raum für Krokodiltränen bestimmter Honoratioren und Gutmenschen, wie wir sie aus den alljährlich zelebrierten Ritualen am 9. November etc. pp. kennen. Der politische Lerneffekt des Stolpersteinprojekts bleibt marginal, die ständigen Wiederholungen erzeugen Langeweile und sind so auf Dauer der Aufklärung abträglich. Die Verfechter des Projekts sollten vielleicht mal überlegen, was von den jahrzehntelang exerzierten Antifaschismusritualen der DDR heute in den Köpfen hängen geblieben ist.

 

Ablasshandel wiederentdeckt
Trauerarbeitaktivisten mit Pflasterkünstler am Friedensplatz in Minden

ablass-steine400

Heute: Für 100 Euro können so genannte Stolperstein-Patenschaften erworben werden. Im Mittelalter war auf dem „Tetzelkasten“ zu lesen: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.“
Collage, kk, 2011

 

Inhaltsverzeichnis:
1. Dr. Bernd Wilhelm Linnemeier, „Stolpersteine“ – eine problematische Form des Opfergedenkens
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2. Leserbrief Mindener Tageblatt, 14.7.09, Stolpern über Stolpersteine
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3. Münchener Oberbürgermeister Christian Ude gegen Stolpersteine
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4. Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, in der Süddeutschen Zeitung vom 12/13. Februar 2004 über „Stolpersteine“
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5. Stolpersteine auch in Petershäger Altstadt (MT vom 10. November 2008)
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6. Stellungnahme zur Verlegung von „Stolpersteinen" vom Dokumentations- und Kulturzentrum Dt. Sinti und Roma e.V.
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Alte Synagoge Petershagen
Diskussion

Oktober 2012
Restaurierung des ehemaligen jüdischen Gemeindezentrums in Petershagen abgeschlossen.

RenovierungSynagogePetershagen300

Seit Oktober 2012 kann die ehemalige jüdische Schule (vorn) zusammen mit der  ehemaligen Synagoge (dahinter) in Petershagen besichtigt werden. Öffnungszeiten siehe Tageszeitung. MT-Foto

 

Mit fremden Federn geschmückt
Leserbrief im „Mindener Tageblatt“ vom 20. Februar 2013
(Vgl. MT vom 4.2.2013 unter Blickpunkt, Seite 12)
Türöffner zum Erfolg von draußen / Das Synagogenensemble in Petershagen: Erfolg hatte mehrere Väter und Mütter
In Petershagen ist man heute mit Recht stolz darauf, dass die ehemalige Synagoge nebst angrenzender früherer Schule restauriert und als Dokumentationszentrum zu besichtigen ist.
Es verwundert aber, wenn Wolfgang Battermann dazu meint, dass der Prozess der Rettung vor allem von Professor Dr. Arno Herzig und ihm selbst "in Gang gebracht" sein soll. Battermann führt dazu an, dass er zusammen mit Herzig 1978 den Innenraum des Gebäudes besichtigte. Öffentlich bekannt geworden ist davon nichts und auch konkrete Folgen der Besichtigung sind nicht erkennbar.
Erst 10 Jahre später ging der Dornröschenschlaf zu Ende. Wilfried Stapperfenne war gerade in Petershagen zugezogen. Er prangerte im Februar 1988, gemeinsam mit mehreren Personen (überliefert sind Schulleiter Brinkmann, Pastor Falke, Kurt Scheurenberg) öffentlich an, dass die einzige im Kreis mit ihren Grundmauern unzerstört gebliebene Synagoge seit Kriegsende als Abstelllager genutzt wurde und die Gruppe forderte die Umwandlung des Gebäudes in der Goebenstraße in eine Gedenkstätte.
Die Stadt Petershagen reagierte auf dieses Politikum: Sie stellte das Gebäude im September 1988 unter Denkmalschutz. Der Kulturausschuss versprach zwei Monate später, passend zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, die Anbringung einer Gedenktafel und wollte über eine mögliche Restaurierung nachdenken. Bis Mitte der 90ger Jahre geschah aber nichts, Stapperfenne war inzwischen verstorben und das ganze Gebäude drohte zu verfallen.
Vor allem das Dach war stark beschädigt. Entscheidend für einen Ankauf des Gebäudes durch die Stadt und Grünes Licht für seine Sanierung war dann vor allem Folgendes: Im Frühjahr 1996 wies Dr. Elfi Pracht-Jörns (Verfasserin des Dokumentarwerkes "Jüdisches Kulturerbe in NRW") bei einer Besichtigung auf die überregionale Bedeutung des Ensembles in der Goebenstraße hin, was später weitreichende finanzielle Zuwendungen (Land/Kreis) begünstigte.
Auch durch das Engagement der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Minden geriet das Projekt wieder ins Blickfeld. Ihr damaliger Vorsitzender, Dr. Heinrich Winter, forderte im November 1996 für Petershagen einen Runden Tisch und fand schließlich bei der Stadt Zustimmung, nachdem er unter anderem an die 1988 gefassten Beschlüsse erinnern konnte. An diesem Runden Tisch fanden im März 1997 in Petershagen nun verschiedene Institutionen und Personen zusammen. 1998 legte eine durch den Runden Tisch beauftragte Gruppe von Fachwissenschaftlern aus Münster unter Federführung von Dr. Bernd-W. Linnemeier, der damals ein größeres Forschungsprojekt zur jüdischen Geschichte im Mindener Land durchführte, ein Nutzungskonzept für die geplante Dokumentationsstätte vor.
Auf Grundlage dieses Konzeptes konnten die zuvor immer wieder spürbaren politischen Widerstände gebrochen werden und der Rat der Stadt Petershagen erteilte seine Zustimmung zu Erwerb und Sanierung des historischen Gebäudes. Die Rettung der ehemaligen Synagoge wurde von mehr Vätern und Müttern "in Gang gebracht", als bisher berichtet wurde.
Sie ist vor allem ein Verdienst des beschriebenen Engagements oben genannter Personen, die mehr als nur "Mitstreiter" waren. Dabei waren Anstöße und tatkräftige Unterstützung von außen häufig die Türöffner zum Erfolg.
Kristan Kossack

MT 29.12.2010: „Mehr Geld für alte jüdische Schule“ Zum MT-Artikel von Uwe Vinke im PDF-Format [64 kB]

MT 21.07.2010 Ständiger Kontakt zum Denkmalamt. Sanierung und Rekonstruktion der jüdischen Schule schreiten voran / „Alle alten Steine wieder eingemauert“ PDF-Datei

Entdeckungen in alter jüdischer Schule
"Die Ausgrabungen in der alten jüdischen Schule in Petershagen sind beendet. Dabei kamen die Archäologen zu einigen neuen Erlkenntnissen: Synagoge und Schule wurden gemeinsam gebaut. ... Das gesamte Ensenble ist in Norddeutschland einzigartig, sagt die Grabungsleiterin Dr. Alexandra Pesch. So entstehe in Petershagen ein Dokumationszentrum jüdischen Lebens im ländlichen Raum. Im Winter wollen die Wissenschaftler gemeinsam mit dem Trägerkreis und der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge ein Konzept für das weitere Vorgehen erstellen. ... Auch die Schule soll eines Tages wie die Synagoge museal genutzt werden. Dabei solle das Schulgebäude die Enge des Schulbetriebs wiederspiegeln. ..."
Berichterstattung im Mindener Tageblatt vom 27.10.2008 / Von Claudia Hyna
Zum Artikel im
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Zwergschule als Lernzentrum?
Stellungnahme zum Nutzungsvorschlag von Pastor Eckhard Hagemeier (im Folgenden H) für die ehemalige jüdische Schule in Petershagen an die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen, z. Hd. Herrn Hagemeier mit der Bitte um Weiterleitung / durchschriftlich an: Stadt Petershagen-Kulturamt, Kultusgemeinde Minden, "Mindener Tageblatt" (z. Hd. Herrn Vinke).
In dem 6-seitigen Papier von H finden sich auf den Seiten 1-5 interessante Hinweise zur Geschichte der ehemaligen jüdischen Schule in Petershagen (von Elfie Pracht und Bernd -Wilhelm Linnemeier) sowie Erkenntnisse des Denkmalschutzes. Synagoge und Schule wurden 1988 bzw. 1999 Schutz gestellt.
Auf den Seiten 5-6, wo es dann um die zukünftige Nutzung der Schule gehen soll, sticht folgende Absichtserklärung ins Auge: In der ehemaligen Schule soll ein "Lernzentrum aufgebaut werden", sie soll "zusätzliches Klassenzimmer für Petershäger Schulen werden ." Dazu behauptet H, dass eine Fülle vorhandener, schulischer Unterrichtseinheiten zu verschiedenen allgemeinen Themen des Judentums in den Räumlichkeiten der "ehemaligen Schule viel authentischer unterrichtet werden, als in einem recht nüchternen Klassenraum" (Seite 6). Glaube und Lernen sind zwei verschiedene Paar Schuhe. H`s Hypothese mag für Kirchen zutreffen. Beim Schulunterricht kommt es dagegen vor allem auf eine ausreichende Befähigung der Lehrkräfte an. H müsste seine neuen didaktischen Erkenntnisse über Zusammenhänge von alten Schulräumen und Unterricht zumindest näher begründen.
In Hinblick auf die konkreten Räumlichkeiten der ehemaligen Schule in Petershagen ist unumstritten, dass darin nur sehr wenig Platz ist. Wenn die Schule nach den Umbauplänen von 1878 restauriert werden soll, wäre das einzige Klassenzimmer gerade 24m2 groß und 3,15 m hoch. Dazu kämen eine kleine Lehrerstube und ein Raum mit der Mikwe. Unterricht ist unter diesen Bedingungen nur schwer vorstellbar, es sei denn man glaubt an besondere Wirkungsmechanismen in Zwergschulen.
Auch bei H erscheint dieser Glaube nicht sehr ausgeprägt. Im Widerspruch zur oben beschworenen Authentizität der Räume zur Verbesserung des Unterrichts, heißt es an anderer Stelle in H`s Papier: "Zur besseren Nutzung der sehr kleinen Räume wäre ein großzügiges Öffnen oder Entfernen der Wand zwischen dem ehemaligen Schulzimmer und der Lehrerstube wünschenswert" (Seite 5). Mit dieser Forderung stellt H die originalgetreue Restaurierung der Schule in Frage. Ist das die Art und Weise in der in Petershagen "Jüdische Geschichte, Gegenwart und Zukunft didaktisch neu aufgearbeitet werden" sollen? (Zitat von H über das Vorhaben im "Mindener Tageblatt" vom 11. April 2007)
Ebenso obsolet ist folgende Absichtserklärung von H: Das "Klassenzimmer für Petershäger Schulen" soll darüber hinaus als "Lernort für Studentinnen, Lehrerinnen" und für "Workshops zur Erwachsenenbildung" dienen. Wenn man diese Wunschliste ernst nimmt steht zu befürchten, dass der nächste Vorschlag zur "besseren Nutzung" darin bestehen könnte, die Dokumentation in der angrenzenden Synagoge auszulagern, um im Innenraum Stühle, Tische, Regale, Computer etc. aufzustellen. Auf gut deutsch hieße das , alles mit dem Hintern wieder einzureißen, was vorher mühevoll aufgebaut worden ist.

Falscher Ehrgeiz
H`s Vorschläge sind nicht nur in Hinblick auf die gegebenen Räumlichkeiten unrealistisch. Er vergisst auch mitzuteilen, wo die notwendigen Lehrkräfte für sein neues "Lernzentrum" herkommen sollen. Petershagen hat keine Uni und meines Wissens noch nicht einmal eine Volkshochschule. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft alte Synagoge Petershagen wären quantitativ und qualitativ überfordert. Bei den Jahreshauptversammlungen trafen sich inklusive der vier Vorstandsmitglieder 2004 - 12, 2006 - 10 und 2007 - 27 Teilnehmer.
Die einzigen Veröffentlichungen zur jüdischen Ortsgeschichte aus diesem Personenkreis finden sich im Historischen Jahrbuch Petershagen 2003/2004, siehe insbesondere den Aufsatz mit dem vollmundigen Titel "Beitrag zur Revision und Entmythologisierung des Novemberpogroms in Petershagen". Seine Autoren, Wolfgang Battermann, Berthold Fahrendorf-Heeren, Uwe Jacobsen und Eckhard Hagemeier, in Personalunion Vorstandsmitglieder der Arbeitsgemeinschaft und allesamt keine Historiker, verweigern seit dem Erscheinen ihres Elaborats die öffentliche Diskussion über die von ihnen verkündeten Thesen.
Glaubt H ernsthaft, dass Historiker aus Bielefeld oder anderen Unis ihre Seminare und Forschungen in die ehemalige jüdische Zwergschule einer Kleinstadt verlegen werden? Planungen und Nutzungskonzepte sollten auf Vorhandenem aufbauen. Das ist in Petershagen ein typisches jüdisches Landgemeindezentrum, bestehend aus einer Schule mit angebauter Synagoge. Solche Zentren sind in Deutschland aus bekannten Gründen selten. Mit möglichst originalgetreuer und wissenschaftlich fundierter Restaurierung könnte ein begehbares Exponat geschaffen werden, das von überregionalem Interesse wäre. Unter den potentiellen Besuchern dürfte sich dann auch der eine oder andere Historiker befinden, der sich zu Gastvorträgen bereit erklärt. Rauchvorhänge wie Lernzentrum, didaktische Neuschreibung jüdischer Geschichte etc. verstellen den Blick auf das Wesentliche und Mögliche:
Die Stadt Petershagen besitzt neuerdings eine zusätzliche Attraktion für ihre Bürger und Besucher, ein altes jüdisches Gemeindezentrum. Seine geschichtsgetreue Instandsetzung und schrittweise Öffnung sind gefragt. Falscher Ehrgeiz ist fehl am Platz.
Kristan Kossack, 25. Mai 2007

Anmerkungen zum Nutzungskonzept für die ehemalige jüdische Schule in Petershagen vom 14. August 2006
Die Kunst der wortreichen Absichtserklärung - oder: Es ist nicht einfach, an anderer Leute Geld zu kommen...
von Bernd-Wilhelm Linnemeier
“Die ehemalige jüdische Schule ist in Verbindung mit der Synagoge ein ‚Ort ehemaligen jüdischen Lebens und seiner Kultur‘ in Petershagen”. So jedenfalls leitet der Vorsitzende des Arbeitskreises Alte Synagoge Petershagen e.V. und zeitweilige Kandidat für das Amt des Superintendenten im Kirchenkreis Minden (das MT berichtete), Pastor E. Hagemeier, das unter seinem Namen veröffentlichte und offenbar im Wege der politischen Entscheidungsfindung vor Ort sowie im Zusammenhang mit der Einwerbung von Drittmitteln erstellte Nutzungskonzept vom 14. August 2006 ein. Von der Existenz eines solchen Papiers wusste der zuständige Lokalredakteur des Mindener Tageblattes offenbar noch nichts, als er am 5. April 2007 den Ankauf der früheren jüdischen Schule in Petershagen meldete und davon sprach, dass “ein Konzept sicher zu erarbeiten sei”. Mittlerweile hat man ihn aber zu einem weiteren Bericht veranlasst (Mindener Tageblatt 11 .4.07); demnach kann es nun wohl bald losgehen.
Zur
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Von Dr. Bernd-Wilhelm Linnemeier, Kulturwissenschaftler in Münster (Arbeitsschwerpunkte u.a.: Regional- und Alltagsgeschichte sowie Jüdische Geschichte) stammen folgende Beiträge:
Ein Resümee ehrenamtlicher Tätigkeit im Rahmen des Projektes “Synagoge Petershagen” 1997-2006
Kleinstadt-Didakten unter sich - oder: Der Dank des Vaterlandes...
von Bernd-Wilhelm Linnemeier
Erste ernsthafte Bemühungen zur Erhaltung, Sanierung und objektgerechten Nutzung der alten Synagoge Petershagen setzten im Spätherbst des Jahres 1996 bzw. zu Beginn des Jahres 1997 ein. Das Gebäude war zwar bereits am 1.9.1988 in die Denkmälerliste der Stadt Petershagen eingetragen worden, Bemühungen zur Restaurierung des noch in Privatbesitz befindlichen Objektes scheiterten aber nicht zuletzt an der Tatsache, dass zur damaligen Zeit noch kein schlüssiges Nutzungskonzept vorgelegt werden konnte. Statt dessen gaben sich alle Beteiligten damals mit der Formulierung zumeist recht nebulöser Ideen zur Schaffung einer “Gedenkstätte” zufrieden, woraufhin die Angelegenheit zunächst nicht weiter verfolgt und vergessen wurde, während das Gebäude zunehmend in Verfall geriet. Der Dampf hatte also zunächst nur zum Pfeifen gereicht, zu mehr aber nicht: Ein Lokalphänomen, das uns noch häufig begegnen wird.
Zur
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Gegenargumente Fehlanzeige
Juni 2004:
Der Vorstand der christlich-jüdischen Gesellschaft in Minden reagiert auf den Artikel „Ein ´Crashkurs´ in jüdischer Ortsgeschichte” mittels Maulkorbbeschluss. Der Verfasser, Dr. Linnemeier, soll nicht mehr als Referent zu Veranstaltungen der christlich -jüdischen Gesellschaft in Minden eingeladen werden.

Oktober 2004: Die Jahreshauptversammlung der „Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge“ (12 Anwesende, darunter die Vorstandsmitglieder Battermann, Fahrendorf-Heeren, Hagemeier und Jacobson sowie das Vorstandsmitglied der christlich-jüdischen Gesellschaft in Minden , Langescheid) beschließen unter Top 2b, Buchveröffentlichung: „Alte Synagoge Petershagen Menschen – Spuren – Wege“: „Die Anwesenden diskutieren die MT-Polemik von Dr. Linnemeier, die allgemein auf Unverständnis gestoßen ist. Die Reaktion des Vorstandes, der Verzicht auf eine Beantwortung, wird in besonderer Weise von den Anwesenden belobigt.“ (Zitat aus dem Sitzungsprotokoll)
25. Januar 2007, Kossack

Erwiderungen auf: „Ein Beitrag zur Revision und Entmythologisierung der Darstellungen des Novemberpogroms in Petershagen“ in: „Alte Synagoge Petershagen Menschen – Spuren – Wege“, Historisches Jahrbuch Petershagen, 2003–2004, Autorenkollektiv: Wolfgang Battermann/Berthold Fahrendorf-Heeren/Eckhard Hagemeier/Uwe Jacobsen

Dr. Bernd-Wilhelm Linnemeier: „Ein ´Crashkurs` in jüdischer Ortsgeschichte“ in: „Mindener Tageblatt vom 30. April 2004 - PDF-Datei [376 kB].

Kristan Kossack: „Mythos kreiert“, veröffentlicht im Internet: 30. April 2004 – PDF-Datei [187 kB]

Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen
Aufgaben und Ziele sind der Erhalt der Alten Synagoge Petershagen, die Aufarbeitung von jüdischem Kulturgut und seiner Geschichte in Petershagen sowie die Förderung einer Gedenk- und Informationsstätte im Synagogengebäude.
Link zur
Internetdarstellung

 

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